Nur heraus aus dem Bett – zum Wohle der Patienten

Mehr Bewegung, erweiterte Kompetenzen: Wie grundlegende Änderungen bei der Physiotherapie zu einer besseren Pflege führen.

Mehr Verantwortung für Bewegung übernehmen

Frühzeitige Mobilisierung ist sowohl für die kurzfristige Erholung nach der OP als auch für die nachhaltige Erhaltung von Mobilität entscheidend. Auch im ERAS-Konzept wird dem Faktor frühzeitige Mobilisierung durch intensive Physiotherapie eine hohe Bedeutung beigemessen. Prof. Dr. Susanne Klotz, Professorin im Studiengang Physiotherapie an der hochschule 21, möchte zeigen, wie dieses Wissen praktisch umgesetzt werden kann und welche strukturellen Veränderungen notwendig sind.

„Wir möchten die Patienten langfristig in einen aktiven Lebensstil bringen. Dazu ist es wichtig, die Gesundheitskompetenz aller, die mit dem Patienten arbeiten, zu erhöhen.“

Klotz ermutigt Healthcare Professionals, den eigenen Stellenwert von Bewegung zu überdenken: „Bewegung liegt in der Verantwortung aller. Habe ich als Pflegender die Einstellung, dass Patienten im Bett am besten aufgehoben sind? Sehe ich als Kaufmann die Notwendigkeit, Aufenthaltsräume einzurichten und notwendiges Equipment anzuschaffen?“

Advanced Physiotherapy Practitioner – mehr Kompetenzen & Verantwortung

Was die Arbeit am Patienten betrifft, tritt sie für eine Akademisierung und somit für mehr Verantwortung für ihren Berufsstand ein. Physiotherapeuten verbrächten mehr Zeit direkt am Patienten als Ärzte und müssten selbst entscheiden können, wie ein Patient von welcher Therapie am meisten profitiert, so Klotz. Ähnlich wie die Advanced Practice Nurse könne sie sich einen Advanced Physiotherapy Practitioner gut vorstellen. Dieser entscheidet in einer Art Physiovisite über die bestmögliche Therapie. „Durch ein Studium kann ein Therapeut beispielsweise die Fähigkeit erwerben, zu screenen, um schwerwiegende Pathologien zu erkennen. Somit kann er in Erstkontakt zum Patienten treten, statt nur auf Verschreibung des Arztes hin tätig zu werden“, argumentiert Klotz. Dabei schätzt die promovierte Physiotherapeutin ihre Rolle eher als partizipativ denn als paternalistisch ein. Sie möchte Patientinnen und Patienten motivieren.

Patienten sind nur 6 Minuten am Tag aktiv

Das Bett erfüllt für viele Patienten die Funktion eines Rückzugsortes – hier verbringen sie die meiste Zeit des Tages, Bewegung findet meist nur während der Physiotherapie statt. Verschiedene Untersuchungen schwanken zwischen fünf bis sechs Minuten beziehungsweise bis zu ein paar wenigen Stunden, die Patienten außerhalb des Bettes verbringen. Dabei gilt eine regelmäßige und frühzeitige Mobilisierung als einer der wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche Rehabilitation

Im Rahmen der Projektstudie Bewegtes Krankenhaus am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf beleuchtete Prof. Klotz gemeinsam mit Ärzteschaft und Pflege die Ist-Situation. In Fokusgruppen suchten die Beteiligten nach Verbesserungsmöglichkeiten. Neben einer Umgestaltung von Krankenhauszimmern und Aufenthaltsräumen sieht Prof. Dr. Klotz vor allem in einer verbesserten Physiotherapeutenausbildung großes Potenzial. 

Präoperative Vorbereitung legt den Grundstein für schnelle Regeneration

Im Rahmen des Forschungsprojektes INCREASE arbeitet Professor Klotz schon vor der OP mit den Patienten – und kann sie so auf die Zeit nach dem operativen Eingriff vorbereiten. Im Vorfeld einer geplanten Operation kann sie mit ihnen üben, damit sie sich, wenn es ihnen erst mal schlecht geht, daran erinnern können.

„Wir alle gemeinsam sollten die Patienten ermutigen, aus dem Bett aufzustehen, Kleidung anzuziehen und selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Die Förderung des bewegten Lebens stellt wiederum eine Erleichterung für die Pflege dar.“

Sie erarbeitet mit ihnen langfristige, sehr individuelle Ziele, wie etwa einen Fünf-Kilometer-Lauf. Daraus resultieren Etappenziele, die in Tagesziele heruntergebrochen werden. Die Patienten bekommen ein Tagebuch mit Übungen, die jedoch nicht verpflichtend sind. „Wir wollen etwas finden, das Freude bringt und langfristig zu einem aktiven Lebensstil beiträgt. Bei INCREASE haben wir die Physiotherapeuten in motivierender Gesprächsführung geschult.“

Der Pflege legt sie die Bewegung aus England nach dem Leitmotiv von Prof. Brian Dolan ans Herz. Dieses lautet: Get up. Get dressed. Get moving.

Das sei ein Handwerkszeug, das man lernen könne, wie massieren. So bekäme man den Patienten dazu, seine Eigenverantwortung zu erkennen. Klotz beeindruckt mit ihrer positiven Haltung: „Ich gehe nicht davon aus, dass Patienten unwillig sind, sondern ambivalent. Es gibt immer Gründe, im Bett zu bleiben. Dann muss ich den Patienten eben herauskitzeln und einen Anlass zum Aufstehen liefern.“

Akademisierung der Physiotherapie-Ausbildung

Klotz ist, wie sie selbst sagt, eine Verfechterin der Akademisierung. Kompetenzen in Gesprächstechniken, Motivation, Verhaltensänderung kämen laut Klotz in der aktuellen Ausbildung viel zu kurz. Mit nur 60 Stunden werden diese in Fächern wie Psychologie, Pädagogik und Soziologie geschult. In Europa ist Deutschland das einzige Land, das noch eine Ausbildung in Physiotherapie anbietet. Bisher kann nur an wenigen deutschen Fachhochschulen ein Bachelor of Science bzw. Arts in Physiotherapie abgeschlossen werden. Andere Länder wie die Niederlande oder Großbritannien sind in Sachen akademischer Physiotherapie-Ausbildung schon weiter. „Von einer besseren Ausbildung würde die Patientenversorgung in der Hinsicht profitieren, dass Forschungsergebnisse einbezogen werden könnten.“

Wie ist die Studie INCREASE aufgebaut?

INCREASE steht für „Interdisziplinäre und sektorenübergreifende Versorgung in der Herzchirurgie am Beispiel von minimalinvasiven Herzklappeneingriffen nach minimalinvasiver Herzklappenrekonstruktion“. Das Projekt wird gemeinsam an den Studienstandorten der Universitätskliniken Hamburg-Eppendorf (UKE) und Augsburg unter der Leitung von Prof. Dr. Evaldas Girdauskas durchgeführt. Die Förderung erfolgt durch den Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss.

Ziel ist die Schaffung einer interdisziplinären Infrastruktur für ein verbessertes Management – vor, während und nach einer Herzklappenoperation. Wichtige Bestandteile sind etwa eine gezielte Vorbereitung und eine frühzeitige Mobilisierung von Patientinnen und Patienten im Anschluss an einen herzchirurgischen Eingriff.

Basis der Vorstudie sind zu 75 % männliche Patienten, durchschnittliches Alter Anfang 50.

Primäre Endpunkte sind die Anzahl der hospitalisierten Tage (aufgrund kardialer Ursachen) innerhalb eines Jahres sowie der körperliche Zustand der Patienten, gemessen mit dem 6-Minuten-Gehtest am Tag der Entlassung.

Die Studie soll 2024 mit 186 Patientinnen und Patienten abgeschlossen werden.

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